Die Bindungstheorie ist eine psychologisch-soziologische Theorie, bei der davon ausgegangen wird, dass alle Menschen das angeborene Bedürfnis nach Nähe zu anderen Mitmenschen haben.
Kinder können einem Bindungstypen zugeordnet werden, indem sie in einer Testsituation beobachtet werden.
Bindungsstörungen können verschiedene Ursachen und Ausprägungen haben. In jedem Fall sollten Sie psychologisch behandelt werden.
Die Bindung zwischen den Eltern und dem Kind ist ganz besonders. Gerade in den ersten Jahren sind sie die mit Abstand wichtigsten Bezugspersonen. Besonders in fremden Situationen und bei Gefahr verlassen sich Kinder auf die Anwesenheit der Mutter bzw. des Vaters. Um dieses Phänomen zu erklären, hat der Kinderpsychologe John Bowlby die Bindungstheorie entwickelt. Aber worum handelt es sich dabei? Und welche Folgen ergeben sich daraus?
Wir klären Sie in unserem Ratgeber rund um das Thema Bindungstheorie auf. Wir erklären Ihnen den Ansatz und erläutern, welche verschiedenen Bindungstypen es gibt. Abschließend zeigen wir Ihnen auf, in welchen Fällen eventuell eine Bindungsstörung vorliegt.
Inhaltsverzeichnis
Durch eine sichere Bindung wird Explorationsverhalten möglich.
Sigmund Freud entwickelt Anfang des 20. Jahrhunderts die Triebtheorie. Nach dieser Theorie entsteht die enge Bindung zwischen Mutter und Kind vor allem durch orale Befriedigung während des Stillens. In den 1950er Jahren kam jedoch immer mehr Kritik an dieser Theorie auf.
John Bowlby, britischer Kinderarzt und Kinderpsychologe, war der festen Überzeugung, dass hinter der engen Bindung ein biologisches Phänomen steckt. Er führte viele verschiedene Studien durch und kam zu den Ergebnis, dass mangelnde mütterliche Fürsorge einen enormen Einfluss auf die Entwicklung und die psychische Gesundheit eines Menschen hat.
Bei der Bindungstheorie von Bowlby steht vor allem das Verhältnis zwischen Mutter und Kind im Vordergrund. Nach dieser Theorie hat jedes neugeborene Kind in realen oder subjektiven Gefahrensituationen das Bedürfnis, den Schutz einer Vertrauensperson zu suchen. So wird ein interaktives Bindungssystem aufgebaut. Die Kinder laufen ihren Müttern nach, klammern sich fest, weinen und zeigen Verzweiflung beim Verlassenwerden.
Neuere Forschungen zeigen, dass sich ein Kind im ersten Lebensjahr maximal an zwei bis drei Personen binden kann.
In diesen Situationen ist es wichtig, dem Kind Sicherheit und Schutz zu geben. Explorationsverhalten, das bedeutet Erkundungsverhalten, wird erst möglich, wenn sich das Kind sicher fühlt. Durch häufigen Blickkontakt findet eine stetige Rückversicherung statt.
Für eine gute Bindungsqualität ist die Feinfühligkeit der Bezugsperson von großer Bedeutung. Das Konzept der Feinfühligkeit geht auf die US-amerikanisch-kanadische Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth zurück, die eng mit John Bowlby zusammengearbeitet hat. Zusammen haben sie die Bindungstheorie in den nächsten Jahren weiterentwickelt. Als Feinfühligkeit wird das situationsangemessene Verhalten der Bezugsperson angesehen. Durch Verständnis und eine angemessene Reaktion kann das Kind ein Gefühl der Selbstbestimmung entwickeln.
Das Testverfahren findet in einer fremden Umgebung statt.
Bereits nach etwa sechs Monaten fängt ein Baby an, seine Bezugsperson zu vermissen und Ausschau nach ihr zu halten. Um die Bindungsqualität zu testen, entwickelten Mary Ainsworth und ihre Kollegen den sogenannten Fremde-Situation-Test. In dieser Laborsituation wurden 12 bis 18 Monate alte Kinder in verschiedenen Situationen im Hinblick auf das Bindungs- und Explorationsverhalten getestet.
Ziel des Tests war es, herauszufinden, wie sich ein Kind in Anwesenheit und in Abwesenheit der Mutter verhält. Mittels dieses Testverfahrens können Kinder bis zu einem Alter von fünf Jahren auf die Qualität der Bindung getestet werden.
Der Test besteht aus folgenden acht Situation zu je drei Minuten:
Im Hinblick auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen, teilte Ainsworth die Kinder in verschiedene Bindungstypen ein.
Bindungstyp | Häufigkeit | Beschreibung | Verhaltensweise in der Fremde-Situation |
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Sichere Bindung | 60-70% der Kinder |
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Das Kind schreit und weint, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Es lässt sich auch nicht von der fremden Person trösten. Kehrt die Bezugsperson zurück, freut sich das Kind und versucht sofort Körperkontakt aufzunehmen. Kurz darauf kann das Kind gleich wieder die Umgebung erkunden und Kontakt zur fremden Person aufnehmen. |
Unsicher-vermeidende Bindung | 10-15% der Kinder |
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Wenn die Mutter den Raum verlässt, zeigt sich das Kind unbeeindruckt. Es spielt weiter und erkundet die Gegend. Kehrt die Mutter daraufhin in den Raum zurück, wird sie konsequent vermieden. Es zieht sogar eher die fremde Person als Kontaktperson heran. |
Unsicher-ambivalente Bindung | 10-15% der Kinder |
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Das Kind weint und schreit, wenn die Mutter den Raum verlässt. Zusätzlich zeigt es durch das Schlagen gegen die Tür aggressive Züge. Kehrt die Bezugsperson zurück, klammert das Kind stark und lässt sich kaum beruhigen. Es zeigt ein sehr ambivalentes Verhalten und ist hin- und hergerissen zwischen Ärger und dem Bedürfnis nach Nähe. |
Desorganisierte Bindung | 5-10% der Kinder |
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Das Kind kann mit der Trennungssituation nicht umgehen. Die Angst und die Gefühle überfordern das Kind und lassen es förmlich erstarren. Dadurch, dass die Bindungsperson sowohl für Sicherheit als auch für Angst steht, ist das Kind emotional überfordert. |
Aus unsicheren Bindungen können Ängste und psychische Störungen entstehen.
Die verschiedenen Bindungsqualitäten haben natürlich Auswirkungen auf die Entwicklung und die Persönlichkeit der Kinder. Kinder, die dem sicheren Bindungstypen zugeordnet werden können, haben bereits Strategien entwickelt, um mit verschiedenen Stresssituationen umgehen zu können. Die Kinder sind aufgeschlossen und zeigen später kaum Ängste. Beim freien Spiel sind sie sehr phantasiereich und sehr konzentriert. Sie zeigen nahezu keine psychopathologischen Merkmale.
Bei der unsicheren Bindung ist das Gegenteil der Fall. Diese Kinder zeigen vor allem im Jugendalter häufiger Ängste und haben Probleme soziale Kontakte zu knüpfen. Sie haben ein geringeres Selbstbewusstsein, da sie häufig mit Ablehnung und Zurückweisung konfrontiert wurden. Außerdem können diese Kinder auch zu Gleichaltrigen schlecht Kontakt aufnehmen. Im Hinblick auf die desorganisierte Bindung haben Studien zudem gezeigt, dass die Kinder oftmals Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten aufweisen.
Laut NICHD-Studie, die ab 1991 in den USA durchgeführt wurde, ist die mangelnde Feinfühligkeit der Bezugsperson der zentrale Faktor für die Herausbildung einer unsicheren Mutter-Kind-Bindung.
Die frühkindliche Bindung hat insgesamt Einfluss auf:
Ein unsicheres Bindungsverhalten führt nicht zwangsläufig zu einer Bindungsstörung bei Kindern. Die unsicheren Bindungstypen liegen in der Regel im Normbereich. Erst wenn sie besonders stark ausgeprägt sind, können sie zu einer Bindungsstörung führen. In nur etwa 3-5% aller Fälle liegt eine Bindungsstörung vor.
Bei einem übersteigerten Bindungsverhalten klammert sich das Kind an die Bezugsperson.
Vor allem eine desorganisierte Bindungsqualität führt in vielen Fällen zu einer Bindungsstörung. Sie tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf und führt dazu, dass das Kind ängstlich ist und Probleme im Sozialverhalten aufweist.
Insgesamt gibt es viele verschiedene Faktoren, die zu einer Bindungsstörung führen können. Dementsprechend können auch die Signale für eine Bindungsstörung sehr unterschiedlich ausfallen. Um eine eindeutige Diagnose stellen zu können, müssen die Verhaltensweisen und Symptome über mehrere Monate beobachtet werden.
Häufige Auslöser sind:
Folgende Arten können unterschieden werden:
Erwachsene können verschiedene Selbstauskunftsfragebögen beantworten, um sich einem Bindungstyp zuordnen zu können.
Achtung: Alle Bindungsstörungen können zu Angst, Panik, Depressionen, Depersonalisation oder somatoformen Störungen führen, sodass eine entsprechende Behandlung vonnöten ist.
Die Bindungstheorie findet in vielen psychologischen Richtungen Beachtung.
In der Bindungstheorie nach Bowlby steht vor allem die Mutter-Kind-Beziehung im Vordergrund. Dies wurde in vielen neueren Forschungen kritisiert, da natürlich auch Väter diese Rolle übernehmen können. Zudem muss die primäre Bindungsperson auch nicht die leibliche Mutter oder der leibliche Vater sein.
Häufig kritisiert wird außerdem, dass Bowlby behauptet, dass eine unsichere Bindung in direktem Zusammenhang psychischen Erkrankungen des Kindes hat. Denn es gibt viele weitere Einflussfaktoren, die bei der Entstehung einbezogen werden müssen. Andersherum garantiert eine sichere Bindung nicht, dass das Kind sich zwangsläufig positiv entwickelt.
Obwohl die Bindungstheorie von Bowlby einige fragwürdige Abschnitte enthält, dient sie dennoch auch heute noch als Grundlage für viele psychologische Theorien und Sozialisationstheorien.
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