Geschlechtsneutrale Erziehung: Wenn Geschlechterrollen im Kindergarten bekämpft werden

   
von Amelie S. - letzte Aktualisierung:
Mädchen als Superheld
Welches Ziel verfolgt die geschlechtsneutrale Erziehung?

Die geschlechtsneutrale Erziehung will sich von traditionellen Rollenbildern lossagen. Kinder sollen sich dadurch freier und unabhängiger entwickeln können.  

Wo wird der Ansatz bereits durchgeführt?

Vorreiter des pädagogischen Ansatzes ist der Norden Europas.

Was sagen KritikerInnen?

KritikerInnen sind der Meinung, Kinder bräuchten die Geschlechterkategorien, um sich selbst einordnen und in der Gesellschaft orientieren zu können.

Jungs toben und spielen mit Dinosauriern und rennen mit dem Spielzeugauto, Mädchen haben lieber Puppen und Plüschtiere zur Hand – das ist doch ganz normal, oder? Heutzutage geraten diese stereotypischen Rollenbilder immer mehr ins Wanken. Besonders im Norden Europas versucht man, diese Rollenklischees zu umgehen. Dabei hört man jedoch nicht nur Lob, sondern auch viel Kritik und Gegenstimmen.

Nachfolgend stellen wir Ihnen daher das moderne pädagogische Konzept der geschlechtsneutralen Erziehung vor und erklären Ihnen, worauf es dabei ankommt.

1. Grundlegendes: Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht

männliche Figur mit weiblichen schatten

Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht.

Beschäftigt man sich allgemein mit der Geschlechterproblematik kommt man nicht umhin, grundlegende Begriffe in Frage zu stellen. So gibt es nicht nur die zwei Geschlechter Junge und Mädchen, denn der Begriff „Geschlecht“ wird in ein biologisches und ein soziales Geschlecht unterschieden. Das sorgt bei Vielen für Verwirrung. Der Unterschied ist im Englischen einfacher zu begreifen: Dort wird zwischen „sex“ und „gender“ unterschieden.

„Sex“ drückt hierbei das biologische Geschlecht aus, also handelt es sich bei einem Menschen bzw. einem Kind anatomisch um einen Mann oder eine Frau. „Gender“ hingegen ist das soziale Geschlecht und bezieht sich vor allem auf Kleidung und Verhaltensweisen, welche seit unserer frühsten Kindheit erlernt sind.

Gerade bei Babys wird oft aufgrund der Kleidung geschlossen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Wenn das Baby im rosa Strampler zusätzlich noch eine kleine Puppe im Kinderwagen zu liegen hat, ist der Fall glasklar: Es ist ein Mädchen. Genau an dieser Stelle kommt es zur Vermischung von „sex“ und „gender“ bzw. dem biologischen und sozialen Geschlecht. Ebendieser Denkvorgang wird heutzutage mehr und mehr als Problem wahrgenommen und hier setzt die geschlechtsneutrale Erziehung an.

2. Geschlechtsneutrale Erziehung: Junge und Mädchen gibt es nicht

Junge spielt mit Puppenhaus

Auch Jungs dürfen mit Puppen spielen.

Bei der geschlechtsneutralen Erziehung geht es darum, Kinder ohne die typischen Rollenklischees groß zu ziehen. Was viele jedoch verwechseln: Es geht nicht darum, die Geschlechter, also Junge und Mädchen, abzuschaffen, sondern den Kindern den Freiraum zu geben, sich unabhängig von diesen traditionellen Vorstellungen zu entwickeln.

„Chancengleichheit und keine Gleichmacherei“ ist also das Motto der geschlechtsneutralen Erziehung. So sollen Kinder vorerst fernab gängiger Klischees erzogen werden. Anschließend wird ihnen die Wahl gelassen, ob und wo sie sich zuordnen wollen.

Zur Verständlichkeit ein Alltagsbeispiel:

Sie sind mit Ihrem kleinen Sohn in der Kinderabteilung eines Klamottenladens. Die geschlechtsneutrale Erziehung sieht es vor, dass Sie nicht automatisch mit Ihrem Kind die Jungsabteilung ansteuern würden. Stattdessen soll das Kind selbst entscheiden, welche Klamotten es sich ansehen möchte. Sucht sich Ihr Kind anschließend ein rosa Kleid aus, ist das in Ordnung. Genauso in Ordnung ist es, wenn es einen blauen Pulli mit einem Drachen haben will.

Es geht also darum, den Kindern zu vermitteln, dass Rollenverhalten (also, wenn sich Ihr Sohn den blauen Drachen-Pullover wählt) völlig in Ordnung, jedoch kein Zwang ist. So soll gewährleistet werden, dass Kinder sich frei und unabhängig entwickeln und auch ihrem Umfeld mit mehr Offenheit entgegentreten.

2.1. Schweden ist Vorreiter der geschlechtsneutralen Erziehung im Kindergarten

schweden flagge

Die Schweden sind wie so oft Pioniere auf dem Gebiet.

Ein sehr prominentes Beispiel für die geschlechtsneutrale Erziehung im Kindergarten findet sich in Schweden. Die Kita „Egalia“ hat diesen pädagogischen Ansatz verinnerlicht und setzt ihn tagtäglich um. Hier werden die Kinder entweder mit Namen oder dem geschlechtsneutralen Pronomen „hen“ angesprochen. Wenn die Kinder es denn so wollen, werden sie auch auf ihren Wunsch hin mit den Personalpronomen „han“ (er) oder „hon“ (sie) angesprochen. Die Entscheidung liegt vollständig bei den Kleinen.

Tipp: Das Schwedische „Hen“ bedeutet so viel wie „es“ im Deutschen, nur das es nicht, wie unser deutsches „es“ auf Objekte, sondern speziell auf Personen bezogen ist, die sich keinem Geschlecht zuordnen.

Der Grund, warum man sich von den gängigen Personalpronomen für er und sie distanziert und auch anstatt Junge oder Mädchen lediglich Kind in dem schwedischen Kindergarten sagt, ist, dass diese Begriffe für die Leiterin Lotta Rajalin zu sehr mit den gängigen Rollenbildern verknüpft sind. Ein Jeder hat aufgrund seiner eigenen Erziehung ein Bild davon, wie ein Junge oder ein Mädchen aussieht und wie sie sich zu verhalten haben.

Im Kindergarten Egalia ist das nicht so. Hier sollen Kinder dazu animiert werden, sich auszuprobieren. Jungs werden nicht mehr zum toben angestiftet als die Mädchen. Letztere werden nicht in die Puppenstube verfrachtet. Die Kinder sollen in diesem Umfeld Fähigkeiten erlernen, Interessen entwickeln und Gefühle erforschen, ohne dass diese Verhaltensweisen direkt kategorisiert werden.

2.2. Andere Länder, bessere Sitten?

Symbol für Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Hände halten zwei Würfel in gleicher Höhe mit den Symbolen für Mann und Frau.

Durch die Geschlechterunterschiede können Kinder Ungerechtigkeiten erleben.

Doch nicht nur im schwedischen Stockholm finden sich solche Erziehungsansätze. Auch in Island, den USA, Kanada und Mexiko wagt man sich an die geschlechtsneutrale Erziehung. In Deutschland hingegen lässt der Erziehungsansatz noch auf sich warten.

Dabei betonen Befürworter, dass Kinder, insbesondere Mädchen, von diesem Ansatz profitieren würden. Durch die Verinnerlichung und unterbewusste Anwendung der gängigen Geschlechterrollen komme es dazu, dass wir Mädchen grundlegend weniger zutrauen. Folgt man dieser Argumentation, würde sich demnach die geschlechtsneutrale Erziehung im Kindergarten und zu Hause positiv auf die Entwicklung und das Selbstbewusstsein ausüben.

Dass der Ansatz in Deutschland aktuell auf taube Ohren stößt, sieht auch das Dresdner ifo Institut für Wirtschaftsforschung als problematisch an. Die Auswertung einer Studie ergab, dass Jungen und Mädchen sogar negativ davon beeinflusst werden, wenn sie im Laufe ihrer Entwicklung Ungerechtigkeiten erfahren, die sich auf ihr Geschlecht zurückführen lassen. Eine geschlechtsneutrale Erziehung könne dementsprechend ein Schritt in die richtige Richtung sein, um Chancengleichheit zu gewährleisten, wie es auch eigentlich Ziel der Politik ist.

3. Kritik und Gegenstimmen

Geschäftsmann zeigt Daumen nach unten

Nicht jeder befürwortet die geschlechtsneutrale Erziehung.

Nicht jeder unterstützt den Ansatz der geschlechtsneutralen Erziehung. Von Kritikern wird befürchtet, dass sich diese Erziehungsmethode sogar negativ auf die Kinder auswirkt. Es heißt, dass die Geschlechterzuordnung elementar für ein späteres gesellschaftliches Zugehörigkeitsgefühl sei. Außerdem wird darauf aufmerksam gemacht, dass Jungs im Tütü und Mädchen, die Fußball spielen, den Mobbingattacken anderer Kinder ausgesetzt werden könnten. Auch die Eltern müssten mit harscher Kritik sogar innerhalb der eigenen Familie rechnen. Ob eine generelle Anpassung an gängige Konfessionen über einer Form der unabhängigen Entfaltung abseits dieser stehen sollte, muss ein Jeder für sich selbst abschätzen.

Teils kursieren unter den Kritikern auch harsche Vorurteile. So wird von „Gehirnwäsche“ oder „Indoktrinierung“ der Kinder gesprochen. Hierbei muss jedoch stets beachtet werden, dass die Verhaltensweisen von Junge und Mädchen, die wir als typisch oder normal betrachten, selbst einst erlernt und nicht naturgegeben sind.

Forscher konnten herausfinden, dass es nur minimale genetische Anlagen für das prominente Rollenverhalten von Männlein und Weiblein gibt. So sind Jungs im Mutterbauch aktiver als Mädchen. Meistens sind Sie später risikobewusster und körperbetonter. Mädchen hingegen entwickeln schneller Fähigkeiten in der Sprachentwicklung und Feinmotorik.

Doch die Grenze zwischen genetischer Bedingtheit und Erziehung ist nach der Geburt schwer zu ziehen. Ein soziales Experiment zeigt, wie sehr wir unser Verhalten anpassen, wenn wir mit vermeintlich männlichen oder weiblichen Kleinkindern konfrontiert sind. In diesem Video sehen Sie, wie wir die Kinder aufgrund unserer unterbewussten Erwartungen erziehen:

4. Weiterführende Literatur zum Thema

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Geschlechtsneutrale Erziehung: Wenn Geschlechterrollen im Kindergarten bekämpft werden
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