Bindungstheorie: Das sollten Sie zum Bindungskonzept wissen

   
von Dana S. - letzte Aktualisierung:
Mutter hat Baby auf dem Arm
Was ist die Bindungstheorie und was sagt sie aus?

Die Bindungstheorie ist eine psychologisch-soziologische Theorie, bei der davon ausgegangen wird, dass alle Menschen das angeborene Bedürfnis nach Nähe zu anderen Mitmenschen haben.

Wie lassen sich Bindungstypen feststellen?

Kinder können einem Bindungstypen zugeordnet werden, indem sie in einer Testsituation beobachtet werden.

Wie entstehen Bindungsstörungen?

Bindungsstörungen können verschiedene Ursachen und Ausprägungen haben. In jedem Fall sollten Sie psychologisch behandelt werden.

Die Bindung zwischen den Eltern und dem Kind ist ganz besonders. Gerade in den ersten Jahren sind sie die mit Abstand wichtigsten Bezugspersonen. Besonders in fremden Situationen und bei Gefahr verlassen sich Kinder auf die Anwesenheit der Mutter bzw. des Vaters. Um dieses Phänomen zu erklären, hat der Kinderpsychologe John Bowlby die Bindungstheorie entwickelt. Aber worum handelt es sich dabei? Und welche Folgen ergeben sich daraus?

Wir klären Sie in unserem Ratgeber rund um das Thema Bindungstheorie auf. Wir erklären Ihnen den Ansatz und erläutern, welche verschiedenen Bindungstypen es gibt. Abschließend zeigen wir Ihnen auf, in welchen Fällen eventuell eine Bindungsstörung vorliegt.

1. Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis nach engen Beziehungen zu Mitmenschen

Bindungtheorie Pädagogik

Durch eine sichere Bindung wird Explorationsverhalten möglich.

Sigmund Freud entwickelt Anfang des 20. Jahrhunderts die Triebtheorie. Nach dieser Theorie entsteht die enge Bindung zwischen Mutter und Kind vor allem durch orale Befriedigung während des Stillens. In den 1950er Jahren kam jedoch immer mehr Kritik an dieser Theorie auf.

John Bowlby, britischer Kinderarzt und Kinderpsychologe, war der festen Überzeugung, dass hinter der engen Bindung ein biologisches Phänomen steckt. Er führte viele verschiedene Studien durch und kam zu den Ergebnis, dass mangelnde mütterliche Fürsorge einen enormen Einfluss auf die Entwicklung und die psychische Gesundheit eines Menschen hat.

Bei der Bindungstheorie von Bowlby steht vor allem das Verhältnis zwischen Mutter und Kind im Vordergrund. Nach dieser Theorie hat jedes neugeborene Kind in realen oder subjektiven Gefahrensituationen das Bedürfnis, den Schutz einer Vertrauensperson zu suchen. So wird ein interaktives Bindungssystem aufgebaut. Die Kinder laufen ihren Müttern nach, klammern sich fest, weinen und zeigen Verzweiflung beim Verlassenwerden.

Neuere Forschungen zeigen, dass sich ein Kind im ersten Lebensjahr maximal an zwei bis drei Personen binden kann.

In diesen Situationen ist es wichtig, dem Kind Sicherheit und Schutz zu geben. Explorationsverhalten, das bedeutet Erkundungsverhalten, wird erst möglich, wenn sich das Kind sicher fühlt. Durch häufigen Blickkontakt findet eine stetige Rückversicherung statt.

Für eine gute Bindungsqualität ist die Feinfühligkeit der Bezugsperson von großer Bedeutung. Das Konzept der Feinfühligkeit geht auf die US-amerikanisch-kanadische Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth zurück, die eng mit John Bowlby zusammengearbeitet hat. Zusammen haben sie die Bindungstheorie in den nächsten Jahren weiterentwickelt. Als Feinfühligkeit wird das situationsangemessene Verhalten der Bezugsperson angesehen. Durch Verständnis und eine angemessene Reaktion kann das Kind ein Gefühl der Selbstbestimmung entwickeln.

2. Die Fremde-Situation ermöglicht die Einschätzung des Bindungsverhaltens

Mutter-Kind-Bindung Test nach Bowlby

Das Testverfahren findet in einer fremden Umgebung statt.

Bereits nach etwa sechs Monaten fängt ein Baby an, seine Bezugsperson zu vermissen und Ausschau nach ihr zu halten. Um die Bindungsqualität zu testen, entwickelten Mary Ainsworth und ihre Kollegen den sogenannten Fremde-Situation-Test. In dieser Laborsituation wurden 12 bis 18 Monate alte Kinder in verschiedenen Situationen im Hinblick auf das Bindungs- und Explorationsverhalten getestet.

Ziel des Tests war es, herauszufinden, wie sich ein Kind in Anwesenheit und in Abwesenheit der Mutter verhält. Mittels dieses Testverfahrens können Kinder bis zu einem Alter von fünf Jahren auf die Qualität der Bindung getestet werden.

Der Test besteht aus folgenden acht Situation zu je drei Minuten:

  • 1. Mutter und Kind kommen in ein Spielzimmer.
  • 2. Das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden.
  • 3. Eine fremde Person kommt herein und nimmt sowohl zur Mutter als auch zum Kind Kontakt auf.
  • 4. Die Mutter verlässt den Raum und lässt das Kind mit der fremden Person zurück.
  • 5. Während die fremde Person den Raum verlässt, kommt die Mutter zurück.
  • 6. Die Mutter verlässt den Raum und lässt das Kind alleine zurück.
  • 7. Die fremde Person kommt wieder dazu.
  • 8. Die Mutter kommt erneut herein, während die fremde Person den Raum verlässt.

3. Die verschiedenen Bindungstypen

Im Hinblick auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen, teilte Ainsworth die Kinder in verschiedene Bindungstypen ein.

Bindungstyp Häufigkeit Beschreibung Verhaltensweise in der Fremde-Situation
Sichere Bindung 60-70% der Kinder
  • Kinder haben Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Bezugsperson
  • Bindungsperson ist sichere Ausgangsbasis, um die Umwelt zu erkunden
  • Kinder besitzen gute soziale Kompetenzen
  • können Nähe und Distanz gut regulieren
Das Kind schreit und weint, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Es lässt sich auch nicht von der fremden Person trösten. Kehrt die Bezugsperson zurück, freut sich das Kind und versucht sofort Körperkontakt aufzunehmen. Kurz darauf kann das Kind gleich wieder die Umgebung erkunden und Kontakt zur fremden Person aufnehmen.
Unsicher-vermeidende Bindung 10-15% der Kinder
  • Kinder zeigen nur wenig Bindungsverhalten
  • kompensieren den Stress durch weitere Erkundung der Umgebung
  • empfinden das Verlassenwerden als Zurückweisung
  • Kinder vermeiden weiteren Kontakt zur Bezugsperson
  • auch die Bindungsperson zeigt eine ablehnende Haltung
Wenn die Mutter den Raum verlässt, zeigt sich das Kind unbeeindruckt. Es spielt weiter und erkundet die Gegend. Kehrt die Mutter daraufhin in den Raum zurück, wird sie konsequent vermieden. Es zieht sogar eher die fremde Person als Kontaktperson heran.
Unsicher-ambivalente Bindung 10-15% der Kinder
  • Kinder zeigen der Bezugsperson gegenüber ein sehr ambivalentes Verhalten
  • sie sind zugleich ängstlich, aber auch sehr abhängig von der Bindungsperson
  • zeigen trotz Anwesenheit der Mutter kein Explorationsverhalten
  • Bindungsperson wird als nicht zuverlässig angesehen, da diese ein widersprüchliches Verhalten zeigt
Das Kind weint und schreit, wenn die Mutter den Raum verlässt. Zusätzlich zeigt es durch das Schlagen gegen die Tür aggressive Züge. Kehrt die Bezugsperson zurück, klammert das Kind stark und lässt sich kaum beruhigen. Es zeigt ein sehr ambivalentes Verhalten und ist hin- und hergerissen zwischen Ärger und dem Bedürfnis nach Nähe.
Desorganisierte Bindung 5-10% der Kinder
  • Kinder zeigen ein widersprüchliches Verhaltensmuster
  • kein eindeutiges Verhalten bei Abwesenheit und Rückkehr der Bezugsperson
  • bizarre Verhaltensweisen wie Erstarren oder stereotype Bewegungen
  • durch das Verlassenwerden wird die emotionale Kommunikation gestört
  • Kinder haben in vielen Fällen Vernachlässigung oder Missbrauch erlebt
  • auch die Bezugspersonen sind häufig traumatisiert
Das Kind kann mit der Trennungssituation nicht umgehen. Die Angst und die Gefühle überfordern das Kind und lassen es förmlich erstarren. Dadurch, dass die Bindungsperson sowohl für Sicherheit als auch für Angst steht, ist das Kind emotional überfordert.

4. Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes

Bindungsstörung Test Erwachsene

Aus unsicheren Bindungen können Ängste und psychische Störungen entstehen.

Die verschiedenen Bindungsqualitäten haben natürlich Auswirkungen auf die Entwicklung und die Persönlichkeit der Kinder. Kinder, die dem sicheren Bindungstypen zugeordnet werden können, haben bereits Strategien entwickelt, um mit verschiedenen Stresssituationen umgehen zu können. Die Kinder sind aufgeschlossen und zeigen später kaum Ängste. Beim freien Spiel sind sie sehr phantasiereich und sehr konzentriert. Sie zeigen nahezu keine psychopathologischen Merkmale.

Bei der unsicheren Bindung ist das Gegenteil der Fall. Diese Kinder zeigen vor allem im Jugendalter häufiger Ängste und haben Probleme soziale Kontakte zu knüpfen. Sie haben ein geringeres Selbstbewusstsein, da sie häufig mit Ablehnung und Zurückweisung konfrontiert wurden. Außerdem können diese Kinder auch zu Gleichaltrigen schlecht Kontakt aufnehmen. Im Hinblick auf die desorganisierte Bindung haben Studien zudem gezeigt, dass die Kinder oftmals Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten aufweisen.

Laut NICHD-Studie, die ab 1991 in den USA durchgeführt wurde, ist die mangelnde Feinfühligkeit der Bezugsperson der zentrale Faktor für die Herausbildung einer unsicheren Mutter-Kind-Bindung.

Die frühkindliche Bindung hat insgesamt Einfluss auf:

  • die Selbstwahrnehmung
  • die Persönlichkeitsentwicklung
  • Wert- und Moralvorstellungen
  • die eigene Paarbeziehung
  • die Stressresistenz und die Krankheitsanfälligkeit

5. Eine Bindungsstörung von einem unsicheren Bindungsmuster abgrenzen

Ein unsicheres Bindungsverhalten führt nicht zwangsläufig zu einer Bindungsstörung bei Kindern. Die unsicheren Bindungstypen liegen in der Regel im Normbereich. Erst wenn sie besonders stark ausgeprägt sind, können sie zu einer Bindungsstörung führen. In nur etwa 3-5% aller Fälle liegt eine Bindungsstörung vor.

5.1 Die Ursachen von Bindungsstörungen

In der Bindungsforschung können durch Tests Bindungsstörungen wie die Parentifizierung ermittelt werden.

Bei einem übersteigerten Bindungsverhalten klammert sich das Kind an die Bezugsperson.

Vor allem eine desorganisierte Bindungsqualität führt in vielen Fällen zu einer Bindungsstörung. Sie tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf und führt dazu, dass das Kind ängstlich ist und Probleme im Sozialverhalten aufweist.

Insgesamt gibt es viele verschiedene Faktoren, die zu einer Bindungsstörung führen können. Dementsprechend können auch die Signale für eine Bindungsstörung sehr unterschiedlich ausfallen. Um eine eindeutige Diagnose stellen zu können, müssen die Verhaltensweisen und Symptome über mehrere Monate beobachtet werden.

Häufige Auslöser sind:

  • körperliche und sexuelle Gewalt
  • Vernachlässigung
  • ständiger Wechsel der Bezugspersonen
  • Verluste
  • erlebte Gewalt
  • unverarbeitetes Trauma der Bezugsperson

5.2. Verschiedene Arten von Bindungsstörungen

Folgende Arten können unterschieden werden:

  • Keine Anzeichen von Bindungsverhalten: Diese Störung ist dem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster sehr ähnlich, jedoch in einer wesentlich stärkeren Ausprägung. Die betroffenen Kinder weisen keine Bindung zu der Bezugsperson auf und zeigen dementsprechend bei Gefahr auch kein Bindungsverhalten.
  • Undifferenziertes Bindungsverhalten: Kinder nutzen sowohl bekannte als auch fremde Personen als Vertrauensperson. Eine weitere Ausprägung ist das Unfall-Risiko-Verhalten. Hierbei setzen die Kinder ihr Risikoverhalten trotz vieler Unfallerfahrungen fort, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
  • Übersteigertes Bindungsverhalten: Die Kinder sind extrem fokussiert auf die Bezugsperson und können selbst in deren Anwesenheit nicht explorieren. Diese Störung entsteht in vielen Fällen dadurch, dass sowohl das Kind als auch die Bezugsperson starke Verlustängste aufweisen.
Bindungsstörung bei Erwachsenen testen

Erwachsene können verschiedene Selbstauskunftsfragebögen beantworten, um sich einem Bindungstyp zuordnen zu können.

  • Gehemmtes Bindungsverhalten: Die betroffene Kinder sind extrem angepasst und reagieren nicht auf eine Trennungssituation. Ihre Gefühle zeigen sie eher fremden Personen als der Bezugsperson. Auslöser stellen häufig Gewalterfahrungen dar.
  • Aggressives Bindungsverhalten: Das Bedürfnis nach Bindung wird über Aggressionen mitgeteilt. Häufig sind Kinder betroffen, die in einer Familie mit aggressiven Umgangsformen aufwachsen.
  • Rollenumkehr: Bei dieser Art von Störung werden die Rollen von Kind und Bezugsperson vertauscht. Das Kind umsorgt beispielweise seine Mutter. Hinter dieser Bindungsstörung steckt in vielen Fällen die Verlustangst des Kindes, weil die Mutter oder der Vater eine psychische Erkrankung aufweist.
  • Bindungsstörung mit Suchtverhalten: Kinder, die keine körperliche Fürsorge erhalten, stillen ihr Bedürfnis nach Nähe beispielsweise durch Nahrungsaufnahme. Bei einem Erwachsenen kann diese Störung zu verschiedenen Süchten führen.
  • Bindungsstörung mit psychosomatischen Symptomen: Unzureichende emotionale Nähe kann das Wachstum des Kindes hemmen. Durch emotionale Zuwendung kann das Wachstum wieder stimuliert werden.

Achtung: Alle Bindungsstörungen können zu Angst, Panik, Depressionen, Depersonalisation oder somatoformen Störungen führen, sodass eine entsprechende Behandlung vonnöten ist.

6. Kritik an der Bindungstheorie

Sozialisationstheorien

Die Bindungstheorie findet in vielen psychologischen Richtungen Beachtung.

In der Bindungstheorie nach Bowlby steht vor allem die Mutter-Kind-Beziehung im Vordergrund. Dies wurde in vielen neueren Forschungen kritisiert, da natürlich auch Väter diese Rolle übernehmen können. Zudem muss die primäre Bindungsperson auch nicht die leibliche Mutter oder der leibliche Vater sein.

Häufig kritisiert wird außerdem, dass Bowlby behauptet, dass eine unsichere Bindung in direktem Zusammenhang psychischen Erkrankungen des Kindes hat. Denn es gibt viele weitere Einflussfaktoren, die bei der Entstehung einbezogen werden müssen. Andersherum garantiert eine sichere Bindung nicht, dass das Kind sich zwangsläufig positiv entwickelt.

Obwohl die Bindungstheorie von Bowlby einige fragwürdige Abschnitte enthält, dient sie dennoch auch heute noch als Grundlage für viele psychologische Theorien und Sozialisationstheorien.

7. Bücher zur Bindungstheorie online kaufen



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